Quercetin in der COVID‑19-Forschung: Hype oder harte Daten?
Leila WehrhahnAktualisiert:TL;DR: Zwischen 2020 und 2022 kursierten große Versprechen zu Quercetin: „natürlicher Zink‑Ionophor“, „Mpro‑Inhibitor“, „günstige Frühtherapie“. Vier Jahre später zeigt die Bilanz: Kleine RCTs und Meta‑Analysen deuten auf mögliche Vorteile als Add‑on bei mildem COVID‑19 hin, aber die Evidenzqualität ist niedrig bis moderat, heterogen und wird von großen Leitlinien nicht als Therapie empfohlen. In‑vitro‑Mechanismen sind plausibel, teils aber relativiert (z. B. Mpro‑Hemmer‑Story). Für Prävention und Long‑COVID sind die Daten vorläufig. Kurzfristig gilt Quercetin in Studien als gut verträglich, wichtige Wechselwirkungen sind jedoch möglich. Es ist kein Ersatz für Impfung, antivirale Medikamente oder leitlinienbasierte Versorgung. Zur aktuellen Meta‑Analyse.
Was ist Quercetin? Die Basics für deutschsprachige Leser:innen
Quercetin ist ein natürliches Flavonol aus der Ernährung – reichlich enthalten in Zwiebeln, Äpfeln, Beeren, Brokkoli, Tee und Rotwein. Als Supplement wird meist Quercetin‑Aglykon oder eine Phytosome‑Form (Lecithin‑Komplex) angeboten. Ein wichtiger Punkt: Die orale Bioverfügbarkeit von Quercetin ist von Natur aus gering (typisch etwa 3–17%). Lecithin‑Komplexe können die Aufnahme in Studien deutlich steigern (teils bis ~20‑fach), was hilft zu verstehen, warum Ergebnisse zwischen Studien variieren. In klinischen Untersuchungen zu Atemwegsinfekten und COVID‑19 lagen die Dosierungen häufig bei 500–1.000 mg/Tag über kurze Zeiträume bis ca. 12 Wochen; in diesem Rahmen wurde Quercetin überwiegend gut vertragen. Hintergrund der NIH/ODS, PK‑Studie zur Phytosome‑Form. Weitere Hintergründe zu Quercetin, Fisetin, Resveratrol und NMN finden Sie in unserem Blog: Quercetin · Fisetin · Resveratrol · NMN.
Quercetin kommt in vielen Pflanzen vor. Es wird schlecht aufgenommen – spezielle Lecithin‑Formen verbessern das deutlich. Studien nutzten meist 500–1.000 mg pro Tag, kurzzeitig gut verträglich.
Biologie und Mechanismen: Was ist plausibel – und was wurde überschätzt?
Warum wurde Quercetin überhaupt diskutiert? Mehrere Mechanismen sind denkbar: (1) antivirale Effekte auf Ebene des Viruseintritts und der Zellfusion; eine Arbeit aus 2024 zeigte in Zellmodellen eine Hemmung der SARS‑CoV‑2‑Infektion und der Syncytienbildung – wichtig, aber in vitro bleibt in vitro. (2) Das „Zink‑Ionophor“-Narrativ: Quercetin kann Zink in Zellen schleusen; Zink wiederum hemmt die virale Hauptprotease (Mpro) in vitro. (3) antientzündliche/antioxidative und immunmodulatorische Effekte. Zellstudie 2024, Zink‑Ionophor‑Nachweis, Zink und Mpro, NIH/ODS‑Evidenzüberblick.
Reality‑Check zur Mpro‑Story: Eine valide 2023er Arbeit in PNAS zeigte, dass Quercetin in gängigen Fluoreszenzassays eine scheinbare Mpro‑Hemmung erzeugen kann, die hauptsächlich auf Fluoreszenz‑Artefakte (Quenching) zurückgeht. In robusteren Assays war die Hemmung schwach/nicht spezifisch. Kurz: Frühe Docking/FRET‑Daten wurden überschätzt. Strenge PNAS‑Validierung.
Mechanismen sind plausibel (Eintritt, Entzündung, Zink‑Shuttle), aber nicht automatisch klinisch relevant. Die „starke Mpro‑Hemmung“ hält strenger Testung kaum stand.
Was zeigen Humanstudien bei akuter COVID‑19?
Die klinische Evidenz basiert vor allem auf kleinen RCTs (teils offen/unverblindet) und zwei neueren Meta‑Analysen (Suchzeiträume bis 2022/2023). Die 2023er Review in Rev Med Virol (6 RCTs) fand reduzierte Hospitalisations‑ und ICU‑Raten, jedoch keinen konsistenten Effekt auf die Mortalität. Eine zweite Meta‑Analyse (2023, Food Science & Nutrition, 5 RCTs, n=544) berichtete signifikante relative Risikoreduktionen für Hospitalisation, ICU und – mit weiten Konfidenzintervallen – auch Mortalität; die Heterogenität der Studien (Formulierungen, Kombinationspräparate, Endpunkte) und das Bias‑Risiko (kleine, oft offene Studien) bleiben limitierend. Rev Med Virol 2023, Food Sci Nutr 2023.
Beispielhafte RCTs: In ambulanten Patient:innen mit früher/milder Erkrankung wurden mit Quercetin‑Phytosome (z. B. 500 mg 2–3× täglich) schnellere PCR‑Negativität und Symptomlinderung beobachtet – allerdings in offenen Settings und mit kleinen Stichproben (n≈100). Outpatient‑RCT zur Phytosome‑Form.
Im Krankenhaussetting zeigte eine kleine offene RCT mit Add‑on‑Quercetin zu Remdesivir/Favipiravir verkürzte Aufenthalte/Entzündungsmarker, ohne signifikante Vorteile bei harten Endpunkten (ICU, Mortalität). Add‑on‑Studie im Krankenhaus.
Kritische Einordnung: Viele Studien sind unblind, kombinieren Quercetin mit anderen Substanzen (z. B. Vitamin C, Curcumin, Bromelain), nutzen Surrogatmarker (CRP/LDH) statt patientenrelevanter Endpunkte und haben wenige Ereignisse. Meta‑Analysen können bei kleinen, heterogenen RCTs große Effekte überschätzen. Entscheidungsträger verlangen daher große, placebokontrollierte, verblindete Studien mit standardisierter Formulierung. Methodische Grenzen im Überblick.
Leitlinienlage: Weder die WHO‑„Living Guideline“ (aktualisiert am 10. November 2023) noch NIH‑Ressourcen empfehlen Quercetin zur Prävention oder Behandlung von COVID‑19 außerhalb klinischer Studien; die Evidenzbasis für Supplemente wird als unzureichend bewertet. WHO‑Therapeutika‑Leitlinie 2023, NIH‑Übersicht zu Nahrungsergänzungsmitteln.
Frühe RCTs geben Signale (v. a. ambulant, Add‑on), sind aber klein und methodisch limitiert. Große Leitlinien sehen aktuell keine Empfehlung für Quercetin bei COVID‑19.
Prävention und Long‑COVID: Was gibt es an Daten?
Prävention: Ein kleiner 3‑Monats‑Pilot bei Healthcare‑Worker:innen (250 mg Quercetin‑Phytosome 2×/Tag) berichtete numerisch weniger symptomatische Fälle (1 vs. 4). Das ist unterpowert und vorläufig – geeignet für Hypothesengenerierung, nicht für Empfehlungen. Pilotstudie im Gesundheitswesen.
Long‑COVID: Es existieren keine robusten Quercetin‑RCTs. Generell sind Supplement‑Studien bei Long‑COVID heterogen, viele Ergebnisse gemischt oder negativ. Beispielhaft zeigte eine doppelblinde RCT zu Lactoferrin keinen Vorteil gegenüber Placebo. Effektive Ansätze liegen eher im Bereich Reha/Atmungs‑/Ausdauertraining mit wachsender Evidenz. Erwartungsmanagement ist wichtig. ERS‑RCT zu Lactoferrin.
Für Prävention und Long‑COVID ist die Evidenz zu Quercetin dünn. Bisher keine belastbaren RCTs für Long‑COVID; Reha‑Maßnahmen haben derzeit die stärkere Basis.
Sicherheit, Interaktionen – und wer vorsichtig sein sollte
Kurzfristige Anwendung bis ca. 1.000 mg/Tag für ≤12 Wochen wurde in Studien meist gut vertragen; mögliche Nebenwirkungen umfassen Magen‑Darm‑Beschwerden oder Kopfschmerzen. NIH/ODS‑Fakten.
Wechselwirkungen sind der Knackpunkt – wichtig in einer älter werdenden, polypharmazeutischen Bevölkerung:
- Transporter/Metabolismus: Quercetin kann CYP3A4 sowie Arzneistoff‑Transporter (P‑gp, OATP1A2/2B1/1B1/1B3) modulieren. In einer Humanstudie stieg die Exposition des P‑gp/OATP‑Substrats Fexofenadin unter Quercetin um ca. +55% (AUC). In‑vitro‑Daten zeigen OATP‑Hemmung im klinisch relevanten µM‑Bereich. Human‑PK‑Signal mit Fexofenadin, OATP‑Hemmung durch Flavonoide.
- Immunsuppressiva (z. B. Cyclosporin): Tier‑ und mechanistische Daten zeigen relevante Wechselwirkungen – in einer Arbeit nahm die Cyclosporin‑Bioverfügbarkeit unter Quercetin/Rutin ab (P‑gp/CYP3A4‑Aktivierung). Bei Transplantierten: keine Selbstmedikation ohne Rücksprache. Wechselwirkungsstudie zu Cyclosporin.
- Antithrombotika: Quercetin‑Metabolite haben antiplättchenwirksame Effekte und können Aspirin in vitro synergistisch verstärken; theoretisch sind Interaktionen mit Antikoagulanzien (z. B. Warfarin) möglich – u. a. via Albumin‑Bindung. Klinische Überwachung empfohlen. Antiplättchen‑Daten, Albumin‑Bindung mit Warfarin.
Besondere Gruppen: Schwangerschaft/Stillzeit: Datenlage unzureichend – lieber meiden, sofern nicht medizinisch indiziert. Bei schweren Grunderkrankungen, Transplantation, Antikoagulation oder komplexen Regimen gilt: vorab ärztlich/apothekerlich beraten lassen. Sicherheitskapitel ODS.
Quercetin ist kurzfristig meist gut verträglich, kann aber relevante Wechselwirkungen auslösen (Transporter, CYP, Blutgerinnung). Bei Polypharmazie: zuerst mit Ärzt:in/Apotheke sprechen.
Regulatorik und Qualität (EU/Deutschland)
In der EU sind Quercetin‑Präparate Nahrungsergänzungsmittel – keine Arzneimittel. Krankheitsbezogene Heilversprechen sind daher unzulässig. Die EFSA hat beantragte gesundheitsbezogene Aussagen zu Quercetin (z. B. „Schutz von DNA/Proteinen/Lipiden vor oxidativen Schäden“) wegen unzureichender Evidenz abgelehnt; das hilft bei der Bewertung von Marketingaussagen. EFSA‑Gutachten zu Quercetin‑Health‑Claims.
Praxis‑Tipps zur Qualität: Achten Sie auf transparente Deklaration der Form (Aglykon vs. Phytosome) und auf unabhängige Laborprüfungen. Leistungs‑ und Kadersport? Bevorzugen Sie Produkte, die in seriösen Anti‑Doping‑Registern (z. B. Kölner Liste) geführt werden – das senkt, aber eliminiert nicht, das Risiko von Kontaminationen.
Praktische Orientierung, falls Sie es trotzdem ausprobieren möchten
Positionierung: Quercetin kann – wenn überhaupt – als ergänzendes Wellness‑Element oder ärztlich begleitetes Add‑on gesehen werden, nicht als Ersatz für Impfung, Antiviralia oder Standards of Care bei COVID‑19. WHO‑Leitlinie, NIH‑Ressource.
- Gespräch mit Arzt/Apotheke: Bringen Sie Ihre komplette Arzneimittelliste mit. Fragen Sie gezielt nach möglichen Interaktionen mit Blutdrucksenkern, Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern, Immunsuppressiva, Statinen und Antihistaminika. Interaktionsüberblick ODS.
- Studiennah dosieren: In akuten Settings wurden oft 500–1.000 mg/Tag über 1–2 Wochen genutzt; Phytosome‑Formulierungen sind häufig. Bisher empfiehlt sich, bei Kurzzeitanwendung zu bleiben. Ambulante RCT.
- Red Flags: Neue Blutungsneigung/leichte Hämatome, ungewöhnliche Arzneimittel‑Nebenwirkungen nach Start von Quercetin oder eigenständige Einnahme bei Transplantation/Onkologie ohne Fachfreigabe – in all diesen Fällen sofort medizinisch Rücksprache halten.
Wohin sollte die Forschung als Nächstes?
Benötigt werden große, doppelblinde, Placebo‑kontrollierte RCTs mit standardisierten Formulierungen und patientenrelevanten Endpunkten (Hospitalisation, Erholung, Lebensqualität), stratifiziert nach Risiko und Impfstatus. Mechanistische Arbeiten sollten Assay‑Artefakte umgehen (z. B. bei Mpro‑Tests) und Konzentrationen verwenden, die humanpharmakologisch erreichbar sind – inklusive PK/PD‑Bridging. Parallel braucht es Real‑World‑Daten zu Transporter/CYP/P‑gp‑Interaktionen, um einen sicheren Einsatz bei Polypharmazie zu ermöglichen. Mpro‑Validierung, Transporter‑Interaktionen.
Bottom line für Longevity‑Leser:innen
Quercetin bleibt interessant für Immun‑ und Entzündungsbiologie – ein Grund, warum es in Longevity‑Kreisen Beachtung findet. Bei COVID‑19 sind die Schlagzeilen aber schneller gewesen als die Evidenz: Einige frühe RCTs/Meta‑Analysen deuten auf Add‑on‑Potenzial bei milder Erkrankung, doch die Qualität reicht nicht für Leitlinienempfehlungen; zentrale Mechanismen (z. B. „starker Mpro‑Hemmer“) wurden methodisch relativiert. Wer experimentiert, sollte das informiert, kurzzeitig und mit Interaktions‑Check tun. Langlebigkeit ist ein Marathon – die bewährten Säulen (Impfungen, Bewegung, Schlaf, Ernährung, Stressreduktion, evidenzbasierte Medizin) bleiben die Basis. WHO‑Leitlinie, NIH/ODS.