Ginkgo bei Tinnitus und Durchblutung: Was die Studien wirklich zeigen

Leila WehrhahnAktualisiert:

Kurz gesagt: Ginkgo biloba wird in Deutschland häufig bei „Tinnitus“ und „Durchblutung“ eingesetzt – aber: Für chronischen Tinnitus gibt es laut hochwertiger Evidenz und deutscher S3‑Leitlinie keine Empfehlung. Bei echten Durchblutungsstörungen der Beine (pAVK) zeigt Ginkgo in Studien keinen klinisch bedeutsamen Nutzen. Wichtig sind stattdessen Beratung, Hörverbesserung, kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und für die Beine: Gehtraining und Risikofaktormanagement. Sicherheitsaspekte wie Blutungsrisiken sind zu beachten. S3‑Leitlinie Chronischer Tinnitus, Cochrane-Review zu Tinnitus, Cochrane-Review zu pAVK, EMA‑Monographie zu Ginkgo folium.

🔍 Kurz zusammengefasst

Für chronischen Tinnitus und pAVK bringt Ginkgo biloba laut Leitlinien und Cochrane keinen belegten Nutzen. Setzen Sie auf bewährte Therapien – Ginkgo ist eher ein „Vielleicht“ für leichte Kältehände/-füße nach ärztlicher Abklärung.

Warum Ginkgo in Deutschland so beliebt ist

Ginkgo-Präparate sind seit Jahrzehnten als apothekenpflichtige Arzneien und als Nahrungsergänzungsmittel verfügbar und werden breit beworben – von „Gedächtnis“ bis „Durchblutung“. In Studien wird oft ein standardisierter Extrakt verwendet, häufig mit der Zusammensetzung des sogenannten EGb 761: typischerweise 22–27% Flavonol‑Glykoside, 5–7% Terpenlaktone (davon ca. 2,8–3,4% Ginkgolide A–C und 2,6–3,2% Bilobalid) sowie Ginkgolsäuren unter 5 ppm. Diese Standardisierung ist wichtig, weil Zusammensetzung und Qualität zwischen Produkten stark variieren können und die Europäische Pharmakopöe Grenzwerte vorgibt. Analyse zu Qualität/Standardisierung, EFSA‑Zusammenfassung zu Spezifikationen.

🔍 Kurz zusammengefasst

Ginkgo ist nicht gleich Ginkgo: Achten Sie auf standardisierte Extrakte mit klaren Gehaltsangaben und sehr niedrigen Ginkgolsäuren (<5 ppm).

Ginkgo bei Tinnitus: Was zeigt die Evidenz?

„Wirksam“ heißt hier: messbare Verbesserung der Tinnitus‑Belastung (z. B. Tinnitus Handicap Inventory, Lautheit, Lebensqualität). Zwei aktuelle systematische Übersichten der Cochrane‑Collaboration (2022) kommen zu einem nüchternen Ergebnis: Im Vergleich zu Placebo zeigt Ginkgo keinen klaren Vorteil; die Evidenz ist insgesamt niedrig bis sehr niedrig, und Tinnitus‑Studien sind besonders anfällig für Placeboeffekte. Cochrane 2022 (12 Studien), Cochrane‑Update der älteren Review.

Die deutsche S3‑Leitlinie Chronischer Tinnitus (Version 4.1) ist bis zum 14. September 2026 gültig und ordnet Medikamente inkl. Ginkgo insgesamt unter „keine oder unzureichende Evidenz“ ein; der Abschnitt 4.1.6.4 diskutiert Ginkgo explizit. Stattdessen empfiehlt die Leitlinie u. a. Tinnitus‑Counselling, Maßnahmen zur Hörverbesserung und psychotherapeutische Verfahren (v. a. CBT). S3‑Leitlinie (PDF).

Vereinzelt gibt es positive Signale in Spezialpopulationen (z. B. Demenz plus Tinnitus) – diese lassen sich jedoch nicht auf Betroffene mit primärem chronischem Tinnitus übertragen. Eine neuere Real‑World‑Analyse aus Deutschland zu akutem Tinnitus (2005–2021) zeigt weniger erneute HNO‑Vorstellungen nach Ginkgo‑Verordnungen als nach Steroiden/Pentoxifyllin; das ist retrospektiv, potenziell verzerrt und taugt nur als Hypothese. Retrospektive Kohorte akut.

🔍 Kurz zusammengefasst

Für chronischen Tinnitus ist Ginkgo in Studien nicht besser als Placebo. Halten Sie sich an Leitlinien: Aufklärung, Hörversorgung und CBT wirken am zuverlässigsten.

Ginkgo und „Durchblutung“: Was ist dran?

Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK, „Schaufensterkrankheit“)

Die beste verfügbare Zusammenfassung (Cochrane‑Review) wertete 14 Studien aus: Es zeigte sich keine klinisch relevante Verlängerung der schmerzfreien Gehstrecke durch Ginkgo gegenüber Placebo. Eine repräsentative RCT bei älteren Erwachsenen (4 Monate, 300 mg/Tag EGb 761) war ebenfalls negativ. Cochrane pAVK, PAD‑RCT 2008.

Kalte Hände/Füße, „leichte Durchblutungsstörungen“

Die EMA führt Ginkgo‑Blätterarzneien für milde kognitive Störungen/Demenz als „well‑established use“ – nicht für „Durchblutung“. Für „Schweregefühl in den Beinen“ oder „kalte Hände/Füße“ gilt nur „traditional use“: plausibel, aber nicht durch robuste klinische Studien belegt. EMA‑Monographie zu Ginkgo folium.

Raynaud‑Syndrom

Kleine Studien zeigen gemischte Resultate; eine neuere RCT mit EGb 761 war negativ gegenüber Placebo. EGb 761 bei primärem Raynaud (RCT).

„Gehirn‑/Mikrozirkulation“

Labor‑ und Tierdaten deuten auf Effekte der Terpenlaktone und Flavonoide hin (z. B. Antagonismus von Platelet‑Activating Factor, antioxidative und endotheliale Wirkungen). Das klingt plausibel, ersetzt aber keine klinischen Belege für „Durchblutung“ bei ansonsten Gesunden. Übersicht PAF‑Antagonismus, Antioxidative Effekte (präklinisch).

🔍 Kurz zusammengefasst

Für pAVK bringt Ginkgo keinen spürbaren Zusatznutzen. Für „kalte Hände/Füße“ stuft die EMA die Anwendung nur als traditionelle, nicht belegte Nutzung ein.

Wie Ginkgo möglicherweise wirkt – ohne Hype

Ginkgo‑Extrakte enthalten Terpenlaktone (Ginkgolide, Bilobalid) und Flavonol‑Glykoside. Diskutierte Mechanismen: Antagonismus von PAF, antioxidative Effekte, Modulation von NO und möglicherweise endotheliale Funktionen. Entscheidend: Mechanistische Plausibilität bedeutet nicht automatisch klinische Wirksamkeit. Mechanismus‑Übersicht, Standardisierung und Inhaltsstoffe.

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Ginkgo hat interessante biochemische Effekte, doch die klinische Wirkung muss in guten Studien gezeigt werden – und das gelingt bei Tinnitus/pAVK nicht.

Was stattdessen hilft (leitlinienbasiert)

Chronischer Tinnitus

  • Tinnitus‑Counselling/Edukation – Verständnis reduziert Stress und Leidensdruck.
  • Hörverbesserung – Hörgeräte oder Cochlea‑Implantat (bei Eignung) können Tinnitus entlasten.
  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) – verbessert Lebensqualität und Coping.
  • Strukturierte Hörtherapien und Selbsthilfe ergänzen sinnvoll.

Details und Ablauf stehen in der deutschen S3‑Leitlinie Chronischer Tinnitus (gültig bis 14.09.2026).

Durchblutung/pAVK

  • Überwachtes Gehtraining (z. B. 3×/Woche) verlängert die Gehstrecke messbar.
  • Risikofaktoren optimieren: Rauchstopp, LDL‑Senkung (Statine), Blutdruck‑, Glukose‑ und Gewichtsmanagement; Thrombozytenhemmung nach Indikation.
  • Gefäßmedizinische Abklärung inkl. ABI‑Messung; Interventionen nur bei klarer Indikation.

Empfehlungen finden Sie in der S3‑Leitlinie pAVK (Stand 18.09.2024).

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Bei Tinnitus: Aufklärung, Hörverbesserung, CBT. Bei pAVK: Gehtraining und Risikofaktoren. Das sind die Hebel mit dem größten, belegten Nutzen – auch für Ihre Longevity.

Sicherheit: Wer Ginkgo meiden sollte und worauf zu achten ist

  • Blutungsrisiko: Es gibt Berichte über Blutungen unter Ginkgo, besonders bei gleichzeitiger Einnahme von Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern. Vor Operationen/Eingriffen Ginkgo rechtzeitig pausieren (oft empfohlen: etwa 5–7 Tage; Zeitpunkt individuell mit Ärztin/Arzt abstimmen). EMA‑Risikoabschnitt.
  • Krampfanfälle/„Ginkgotoxin“ aus Samen: Ginkgo‑Blätterextrakte sind nicht dasselbe wie Samen/Nüsse. Übermäßiger Verzehr von Ginkgo‑Samen kann wegen 4′‑O‑Methylpyridoxin (Ginkgotoxin) Anfälle auslösen; Vorsicht bei Epilepsie. Fallberichte/Mechanismus.
  • Häufige, milde Nebenwirkungen: Magen‑Darm‑Beschwerden, Kopfschmerz, allergische Reaktionen – Studien fanden keine Erhöhung schwerer unerwünschter Ereignisse gegenüber Placebo, aber Interaktionen sind möglich. Cochrane Tinnitus, EMA.
  • Interaktionen: Immer Ärztin/Arzt und Apotheke informieren – speziell bei ASS, Clopidogrel, DOAKs (z. B. Rivaroxaban), Warfarin.
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Ginkgo kann blutungsfördernd wirken, besonders mit Blutverdünnern. Samen sind tabu bei Epilepsie. Sprechen Sie vorab mit Ihrem Behandlungsteam.

Wenn Sie Ginkgo trotzdem testen möchten: So geht’s strukturiert und sicher

Für wen kommt ein vorsichtiger Versuch infrage? Eher für Erwachsene mit lästigen „kalten Händen/Füßen“, nachdem ernsthafte Ursachen ärztlich ausgeschlossen wurden und nach Rücksprache – nicht als Therapie für primären chronischen Tinnitus. Die EMA stuft diese Anwendung nur als traditionelle Nutzung ein. EMA‑Monographie.

Qualitäts‑Checkliste (Deutschland):

  • Bevorzugen Sie standardisierte, verfeinerte, quantifizierte Extrakte mit Angaben wie: 22–27% Flavonol‑Glykoside, 2,6–3,2% Bilobalid, 2,8–3,4% Ginkgolide A–C; Ginkgolsäuren <5 ppm. Apothekenpflichtige Arzneimittel sind Nahrungsergänzungen vorzuziehen. Qualitätsanalyse.

Dosierung & Dauer (orientierend, nach Packungsbeilage): In Studien wurden meist 120–240 mg/Tag in 1–2 Gaben verwendet. Geben Sie dem Versuch 8–12 Wochen; beenden Sie ihn bei fehlendem Nutzen oder Nebenwirkungen. Nicht ohne ärztliche Begleitung mit Antikoagulanzien kombinieren. EMA‑Hinweise.

Red Flags – dann sofort Ärztin/Arzt kontaktieren: Geplanter Eingriff/Zahn-OP, ungewohnte Blutergüsse/Blutungen, neue neurologische Symptome, bekannte Epilepsie.

🔍 Kurz zusammengefasst

Wenn Ginkgo, dann nur nach Abklärung, mit hochwertigem Extrakt, befristet (8–12 Wochen) und mit Blick auf Blutungszeichen – nie eigenmächtig mit Blutverdünnern kombinieren.

„Ampel“-Fazit für schnelle Entscheidungen

  • Tinnitus (chronisch): 🔴 – nicht empfohlen; investieren Sie in Counselling/Hörversorgung/CBT. S3‑Leitlinie.
  • pAVK/Claudicatio: 🔴 – kein klinisch bedeutsamer Nutzen. Cochrane pAVK.
  • Kalte Hände/Füße (nach Abklärung): 🟡 – traditionelle Anwendung möglich, Evidenz schwach. EMA.

Praktische Checkliste zum Ausdrucken

Wenn Sie chronischen Tinnitus haben

  • Termin bei HNO: Hörtest, Differenzialdiagnostik.
  • Nach Tinnitus‑Counselling und CBT fragen; Hörgeräte/CI prüfen.
  • Einer Selbsthilfegruppe anschließen.
  • Ginkgo auslassen – Fokus auf wirksame Maßnahmen. Leitlinienempfehlungen.

Wenn Sie pAVK oder Gehschmerz haben

  • ABI‑Test (Knöchel‑Arm‑Index) ansprechen.
  • In ein überwachtes Gehtraining starten.
  • Risikofaktoren konsequent behandeln (Rauchstopp, LDL, Blutdruck, Blutzucker).
  • Nicht auf Ginkgo verlassen. S3‑Leitlinie pAVK.

Wenn Sie Ginkgo für „kalte Hände/Füße“ erwägen

  • Erst ärztlich ernsthafte Ursachen ausschließen.
  • Standardisierten Extrakt wählen; 8–12 Wochen testen; Nutzen kritisch prüfen.
  • Auf Blutungszeichen achten; vor Eingriffen pausieren; kein Start mit Antikoagulanzien ohne Freigabe.
  • Das Ziel bleibt: Gefäßgesundheit stärken – Bewegung, Ernährung, Schlaf und Nichtrauchen zahlen langfristig auf Ihre Longevity ein.

Hintergrund: Warum „Durchblutung“ oft ein Marketingwort ist

„Bessere Durchblutung“ klingt greifbar, beschreibt aber selten ein konkretes, patientenrelevantes Ergebnis. Medizinisch zählen objektive Endpunkte wie Gehstrecke ohne Schmerz (pAVK), standardisierte Tinnitus‑Scores oder Lebensqualität. Genau dort bleiben die Effekte von Ginkgo bei Tinnitus und pAVK in hochwertigen Studien aus – trotz plausibler Laborbefunde. Cochrane Tinnitus, Cochrane pAVK.

🔍 Kurz zusammengefasst

Wichtig sind spürbare Verbesserungen im Alltag – nicht nur Laborwerte. Genau diese Verbesserungen zeigt Ginkgo bei Tinnitus/pAVK in guten Studien nicht.

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FAQ

Kann Ginkgo Tinnitus heilen?

Nein. Für chronischen Tinnitus zeigen hochwertige Reviews keinen belegten Nutzen und die deutsche S3‑Leitlinie empfiehlt Ginkgo nicht. Konzentrieren Sie sich auf Counselling, Hörversorgung und CBT.

Verbessert Ginkgo die Beindurchblutung, damit ich weiter gehen kann?

Für pAVK zeigte Ginkgo in Studien keinen klinisch bedeutsamen Effekt auf die Gehstrecke. Belegt sind Gehtraining, Rauchstopp und das Management von Risikofaktoren.

Was ist mit der „Gehirn‑Durchblutung“?

Die EMA erkennt Ginkgo‑Extrakte für Symptome bei leichter Demenz als "well‑established use" an. Für generelle „Durchblutungs“-Aussagen bei gesunden Erwachsenen gibt es keine belastbaren Belege.

Ist Ginkgo sicher mit Xarelto, ASS, Clopidogrel oder Warfarin?

Vorsicht: mögliches Blutungsrisiko. Starten Sie Ginkgo nicht ohne Rücksprache mit Ihrer Ärztin/Ihrem Arzt und informieren Sie immer Ihre Apotheke.

Welche Dosis und wie lange testen?

In Studien wurden häufig 120–240 mg/Tag eingesetzt. Beurteilen Sie den Nutzen nach 8–12 Wochen. Bei Nebenwirkungen oder ohne Effekt beenden.

Wie wir diesen Artikel überprüft haben:

Quellen

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