Ginkgo biloba für Augen- und Ohrengesundheit: Sehkraft, Tinnitus und Mikrozirkulation im Fokus
Leila WehrhahnAktualisiert:TL;DR – Standardisierte Ginkgo-biloba-Trockenextrakte (z. B. EGb 761; 24 % Flavonglykoside, 6 % Terpenlaktone, < 5 ppm Ginkgolsäuren) zeigen gemischte Evidenz für Augen‑ und Ohren‑Themen. Für primären Tinnitus sprechen hochwertige Reviews gegen einen Nutzen; in Subgruppen (z. B. ältere Erwachsene mit kognitiven Symptomen) sind kleine, statistisch signifikante Verbesserungen möglich. Für das Sehen kann Ginkgo kurzfristig die okuläre Perfusion beeinflussen, klare Vorteile bei Glaukom‑Endpunkten fehlen jedoch. Insgesamt gilt: gut verträglich, aber Vorsicht bei Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern und vor Operationen. Sinnvoll ist eine 8–12‑wöchige, messbare Zusatz‑Therapie auf Zeit – immer ärztlich begleitet und nie als Ersatz für Leitlinienmaßnahmen.
Ginkgo kann als geprüfter Arzneiextrakt in ausgewählten Fällen einen Versuch wert sein. Setzen Sie auf eine klare Fragestellung, messbare Ziele und ein Ende nach 8–12 Wochen, wenn sich nichts ändert.
1) Kurz erklärt: Was bedeutet „apothekenpflichtiger“ Ginkgo – und warum ist das in Deutschland wichtig?
Unter „apothekenpflichtigem“ bzw. „pharmazeutischem“ Ginkgo versteht man standardisierte Trockenextrakte aus Ginkgoblättern mit klar definierten Qualitätsparametern: Droge‑Extrakt‑Verhältnis typischerweise 35–67:1, Extraktionsmittel Aceton‑Wasser (60 %), Wirkstoff‑Standardisierung auf etwa 24 % Flavon‑Glykoside und 6 % Terpenlaktone sowie ein Gehalt an Ginkgolsäuren von unter 5 ppm. Diese Spezifikationen sichern Wirksamkeits‑ und Sicherheitsdaten ab – und lassen sich nicht 1:1 auf freiverkäufliche Nahrungsergänzungen mit variabler Zusammensetzung übertragen. Gute Anlaufstellen sind die Packungsbeilage („standardisierter Trockenextrakt … nach Ph. Eur.“) und die Apotheke.
Regulatorisch gilt: Der EU‑Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der EMA erkennt für den Trockenextrakt einen „well‑established use“ zur Verbesserung altersbedingter kognitiver Beeinträchtigungen bei leichter Demenz an; für Pulver aus Blättern existiert nur eine traditionelle Anwendung für leichte Durchblutungsbeschwerden. Tinnitus ist keine HMPC‑Indikation. Historisch nannte die deutsche Kommission E Schwindel und Tinnitus „vaskulärer/involutiver Genese“; das ist jedoch keine Wirksamkeitsgarantie, sondern eine damals getroffene Indikationszuordnung. Zudem wurde der Grenzwert < 5 ppm Ginkgolsäuren wegen Kontaktallergenität und Sicherheitsaspekten festgelegt. Informationen liefert die EMA‑Monografie und einschlägige Urteile zur Abgrenzung von Nahrungsergänzung/Arzneimittel.
Für Verbraucher wichtig: In Deutschland unterscheiden sich apothekenpflichtige Arzneimittel mit standardisiertem Extrakt deutlich von Nahrungsergänzungsmitteln mit teils nicht standardisierten, uneinheitlichen Extrakten. Viele beworbene Vorteile lassen sich deshalb nicht auf Nahrungsergänzungen übertragen. Die Verbraucherzentrale NRW rät, auf die Deklaration des Ginkgolsäure‑Gehalts zu achten und verweist auf die 5‑ppm‑Grenze für Arzneimittel.
Wirksamkeitsdaten beziehen sich fast immer auf streng standardisierte Arznei‑Extrakte. Wer Wirkung will, sollte auf solche Produkte achten und die Apotheke einbinden.
Weiterlesen: EMA/HMPC zu Ginkgo folium; Überblick zu Standardisierung in der klinisch‑pharmakologischen Untersuchung zu EGb 761; Verbraucherhinweise der Verbraucherzentrale NRW; Hintergrund zu Ginkgolsäuren in VG Köln, Urteil 2005.
2) Warum Ginkgo für Augen und Ohren überhaupt interessant ist (in einfacher Sprache)
- Antioxidativ/antiinflammatorisch: Polyphenole und Terpenlaktone dämpfen Entzündungs‑Signalwege und oxidativen Stress.
- PAF‑Antagonismus: Ginkgolide blockieren den „platelet‑activating factor“, was Thrombozytenaktivierung und Mikrogefäßereignisse beeinflussen kann.
- Endothel‑Effekte und Rheologie: Hinweise auf verbesserte Fließeigenschaften des Blutes und veränderte Erythrozytenaggregation, potenziell relevant für Netzhaut/Sehnerv und Cochlea.
- Neuroprotektion: In präklinischen Modellen Schutzmechanismen an Retina und auditorischen Bahnen.
Diese Mechanismen sind plausibel, ersetzen aber keine klinischen Belege für harte Endpunkte. (Quelle: PubMed)
Wenn Sie die Schlüsselinhaltsstoffe besser verstehen möchten: Flavonoide, Ginkgolide und Bilobalid erklärt.
Ginkgo wirkt an vielen Stellschrauben der Mikrozirkulation und Zellschutzmechanismen. Das klingt gut – sagt aber noch nichts darüber aus, wie stark Patientinnen und Patienten davon im Alltag profitieren.
3) Ginkgo für die Sehkraft: Was zeigt die Evidenz?
Use Case: Normaldruckglaukom (NTG) und okulärer Blutfluss
Kleine Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Ein frühes, vierwöchiges, randomisiertes Cross‑over‑Trial mit 40 mg dreimal täglich fand Verbesserungen in Gesichtsfeld‑Indizes bei NTG, ohne den Augeninnendruck zu verändern. Spätere, besser gepowerte Cross‑over‑Daten zeigten hingegen keinen Effekt auf Gesichtsfeld oder Kontrastempfindlichkeit. Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit (2025, 8 Studien, n=428) fand insgesamt keine verlässlichen Verbesserungen in IOD, mittlerer Abweichung (MD) oder korrigierter Musterstandardabweichung (CPSD). Konsequenz: Ginkgo ist keine Primärtherapie bei Glaukom. Als Zusatz kann man es bei NTG im Einzelfall erwägen – in enger Absprache mit der Augenärztin/dem Augenarzt und mit konsequentem Monitoring der Gesichtsfeld‑Trends. (Quelle: PubMed)
Zur Mikrozirkulation: Kurzfristig lassen sich in einigen Studien Veränderungen in okulären Flussparametern messen (z. B. Enddiastolen‑Geschwindigkeit in der A. ophthalmica oder peripapilläre Flussdichte). Die Ergebnisse sind inkonsistent und oft von kurzer Dauer; die klinische Bedeutung bleibt unklar. (Quelle: PubMed)
Bei NTG ist Ginkgo höchstens ein Zusatzbaustein. Messen Sie Fortschritt mit standardisierten Gesichtsfeld‑Tests – und erwarten Sie keine Wundereffekte auf den Augeninnendruck.
AMD und andere Netzhauterkrankungen
Für altersbedingte Makuladegeneration und andere Netzhautdiagnosen ist die Datenlage zu Ginkgo dünn. Vorrang haben Blutdruck‑/Glukosekontrolle, Rauchstopp, UV‑Schutz und – wo indiziert – AREDS‑ernährungsmedizinische Strategien. (Keine belastbaren Ginkgo‑Claims.)
4) Ginkgo bei Tinnitus und Innenohr: Signal vom Rauschen trennen
Primärer Tinnitus als Hauptbeschwerde: Die Cochrane‑Aktualisierung berichtet über keine überzeugenden Vorteile gegenüber Placebo, wenn Tinnitus der primäre Behandlungsanlass ist. (Quelle: Cochrane)
Subgruppen/kontextabhängige Hinweise:
- Begleit‑Tinnitus bei Demenz: Meta‑Analyse randomisierter Studien mit 240 mg EGb 761 über 22–26 Wochen zeigte kleine, statistisch signifikante Verbesserungen in Tinnitus‑ und Schwindel‑Ratings. Klinisch: moderater, kontextabhängiger Zusatznutzen. (Quelle: PubMed)
- Kopf‑an‑Kopf gegen Pentoxifyllin: In einer 12‑Wochen‑RCT bei subakut/chronischem Tinnitus verbesserten sich beide Gruppen ähnlich; unter EGb 761 traten weniger Nebenwirkungen auf. Praktische Lesart: als Option für einen überwachten Zusatzversuch geeignet, insbesondere wenn Pentoxifyllin erwogen wird. (Quelle: PubMed)
- Präklinisch/Frühsignal: Tierdaten deuten auf Schutz vor lärminduzierter Hörveränderung und Tinnitusentwicklung hin; klinisch ist das noch nicht praxisverändernd. (Quelle: Wiley)
Praxis‑Stack für Tinnitus (leitliniennah): Basis sind Aufklärung, Hördiagnostik, Behandlung von Hörverlust (inkl. Hörsysteme), Schalltherapien und kognitiv‑verhaltenstherapeutische Ansätze; Ginkgo kann – nach HNO‑Abklärung – als optionaler Zusatzversuch bei ausgewählten Erwachsenen diskutiert werden. Orientierung gibt die deutsche S3‑Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ der AWMF. (Leitlinie: AWMF)
Bei primärem Tinnitus ist der Evidenzpfeil klar: erst Leitlinienmaßnahmen. Ginkgo bleibt optional und kontextabhängig – am ehesten bei älteren Patientinnen und Patienten mit kognitiven Beschwerden plus Tinnitus.
5) Mikrozirkulation verstehen: Augen und Ohren als „Feinäderchen‑Organe“
„Mikrozirkulations‑Support“ meint v. a. die Durchblutung von Sehnervkopf/Netzhaut und der stria vascularis im Innenohr. Systemische Risikofaktoren (Blutdruck, Blutzucker, Lipide, Rauchen) haben hier wesentlich mehr Hebelwirkung als jedes Einzelpräparat. Humanstudien mit Ginkgo zeigen physiologische Signale (z. B. kurzzeitige Änderungen in okulären Flussparametern, teils verringerte Erythrozytenaggregation). Die Übertragung auf harte klinische Endpunkte bleibt unsicher. (Quelle: PubMed)
Ginkgo kann die „Feinversorgung“ messbar beeinflussen – ob das langfristig Seh‑ oder Hörfunktionen schützt, ist nicht abschließend bewiesen.
6) So nutzen Sie Ginkgo in Deutschland sicher – das Praxis‑Playbook
Wer kommt für einen ärztlich begleiteten Versuch infrage?
- Erwachsene mit Normaldruckglaukom als denkbarer Zusatz zur Standardtherapie (Zieldaten: Gesichtsfelder, OCT‑Trends).
- Ältere Erwachsene mit kognitiven Beschwerden und begleitendem Tinnitus/Schwindel (Dosis 240 mg/Tag in Studien). (Quelle: PubMed)
- Menschen, die ihre Mikrozirkulation flankieren möchten – immer zusammen mit konsequenter Risiko‑Faktorkontrolle.
Wer sollte ohne ärztlichen Rat nicht starten?
- Patientinnen und Patienten unter Antikoagulanzien (z. B. Warfarin/DOAK) oder Thrombozytenhemmern (z. B. ASS, Clopidogrel), mit Blutungsneigung, vor/nach Operationen, mit Epilepsie/Anfallsanamnese, in Schwangerschaft/Stillzeit. Beobachtungsdaten deuten auf erhöhtes Blutungsrisiko bei Warfarin + Ginkgo hin; RCTs zu Thrombozytenfunktion (mit ASS) sind beruhigend, aber nicht endgültig. (Quelle: PubMed)
Wechselwirkungen
Die Literatur zu CYP‑Interaktionen ist gemischt. Ein kontrolliertes „Cocktail“-Studien‑Design zeigte keinen klinisch relevanten Effekt von EGb 761 auf die großen CYP‑Isoenzyme in vivo. Ältere Daten mit nicht‑EGb‑Präparationen deuteten teils auf CYP2C19‑Effekte. Praxis: Medikationsliste prüfen (v. a. Protonenpumpenhemmer, Antiepileptika, Antikoagulanzien). (Quelle: SpringerLink)
Produkt‑Checkliste (Deutschland)
- Standardisierter Trockenextrakt (z. B. EGb 761) mit 24/6‑Standardisierung; Ginkgolsäuren < 5 ppm; bevorzugt apothekenpflichtiges Arzneimittel.
- Keine Extrapolation von Arzneidaten auf unstandardisierte Nahrungsergänzungen. (Verbraucherzentrale NRW)
Dosis, Zeitpunkt, Dauer
- Typische Studiendosierung: 120–240 mg/Tag, 1–2 Gaben zu den Mahlzeiten.
- Dauer des Versuchs: 8–12 Wochen, dann Re‑Evaluation.
- Messgrößen: Glaukom: Gesichtsfeld‑Indizes/OCT‑Verlauf; Tinnitus: Mini‑TQ, 11‑Punkt‑Lautheit/Belastung, Schlafqualität.
- Nur bei patientenrelevantem Nutzen fortführen. (Quelle: PubMed)
Sicherheitstipps
- Vor geplanten Eingriffen pausieren: In Fach‑ und Patienteninformationen wird ein Absetzen vor Operationen empfohlen. Viele Zentren raten je nach Setting zu mehreren Tagen bis zu 2 Wochen; klären Sie den konkreten Zeitraum mit Chirurgie/Anästhesie (häufig 5–7 Tage). Achten Sie besonders auf additive Blutungsrisiken. (Rote Liste)
- Warnsignale: ungewöhnliche Blutergüsse/Blutungen, starke Kopfschmerzen, Hautreaktionen, gastrointestinale Beschwerden – ärztlich abklären.
Starten Sie mit 120–240 mg/Tag, prüfen Sie Wechselwirkungen, setzen Sie vor OPs rechtzeitig ab und stoppen Sie nach 8–12 Wochen ohne klaren Nutzen.
7) Langlebigkeits‑Gewohnheiten, die mehr bewirken als jede Pille
Eine kuratierte Übersicht passender Produkte finden Sie in unserer Longevity‑Kollektion.
- Augen: Blutdruck/Glukose im Zielbereich, UV‑Schutz, Rauchstopp, AREDS‑gerechte Ernährung falls empfohlen.
- Ohren: lebenslange Lärmhygiene (Ohrstöpsel dabeihaben), Hörverlust früh behandeln, Schlaf/Stress managen, regelmäßige Bewegung.
- Gefäße: Mittelmeer‑Muster, „Zone‑2“‑Ausdauer plus Krafttraining, Omega‑3 aus Lebensmitteln, Gewichtsmanagement.
8) Schritt‑für‑Schritt‑Plan (zum Ausdrucken)
- Diagnose & Baseline: Termin bei Augenärztin/Augenarzt bzw. HNO: Gesichtsfeld/OCT bzw. Audiogramm; Tinnitus‑Scores definieren.
- Präparat wählen: Standardisierter, apothekenpflichtiger Extrakt; Medikamentenliste mit Ärztin/Arzt oder Apotheke abgleichen.
- Start: 120–240 mg/Tag; 2–3 messbare Ziele festlegen (z. B. 11‑Punkt‑Tinnitus‑Lautheit, Schlaf, peripapilläre Durchblutung/Visus‑Feld‑Trend).
- Re‑Check nach 8–12 Wochen: Nur bei klarem, patientenrelevantem Nutzen fortführen – sonst absetzen und Kerntherapien optimieren.
9) Mini‑FAQ
- Wie lange bis ich etwas merke? Realistisch 4–8 Wochen; Bilanz spätestens in Woche 12.
- Mit meinen Glaukom‑Tropfen kombinieren? In der Regel ja – aber nur als Zusatz, nie als Ersatz. Bitte mit der Augenärztin/dem Augenarzt abstimmen.
- Hilft es bei „Stress‑Tinnitus“? Die Evidenz für primären Tinnitus ist schwach; zuerst leitliniengerechte Maßnahmen wie CBT/Soundtherapie erwägen. Ein ärztlich überwachter Ginkgo‑Versuch ist optional. (Quelle: Cochrane)
- Morgens oder abends einnehmen? Zu den Mahlzeiten; geteilte Dosen verbessern oft die Verträglichkeit.
Wenn Sie in die Zielgruppe passen, besprechen Sie mit Augenärztin/‑arzt bzw. HNO und Ihrer Apotheke einen klar definierten 8–12‑Wochen‑Zusatzversuch – mit objektiven Messgrößen. Priorisieren Sie parallel die Lebensstil‑Hebel; hier liegt der größte Longevity‑Gewinn.