Ginkgo und seelisches Wohlbefinden: Was die Forschung zu Angst und Stimmung verrät
Leila WehrhahnAktualisiert:Ginkgo und mentales Wohlbefinden: Was Angst- und Stimmungsforschung wirklich zeigt
- Wahrscheinlich: Kleine, aber signifikante angstlösende Effekte in einer hochwertigen, 4‑wöchigen RCT; Verbesserungen stimmungsnaher Symptome bei Demenz; bei Depression insgesamt heterogene Datenlage. Nicht als Erstlinientherapie in Deutschland empfohlen.
- Unklar: Nachhaltige Effekte über mehrere Monate und Nutzen in breiteren Angst-/Depressionspopulationen.
- Safety first: Blutungsrisiko (v. a. mit Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern/NSAIDs/SSRIs) beachten; Vorsicht bei Epilepsie, vor OPs, in Schwangerschaft/Stillzeit. In Deutschland bevorzugt zugelassene, standardisierte Arzneimittel wählen.
Wichtigste Evidenz: randomisierte Studie zu Angst (EGb 761, 240–480 mg/Tag, 4 Wochen) und EMA/HMPC‑Monografie (Indikation: kognitive Beeinträchtigung/Milddemenz; nicht Angst/Depression).
Quellen: randomisierte Angst‑Studie; EMA/HMPC‑Monografie.
1) Ginkgo 101: Was es ist, wie es standardisiert wird und wofür es in EU/DE zugelassen ist
Was ist Ginkgo‑Extrakt? Ginkgo biloba‑Blätter liefern einen definierten Trockenextrakt. Am besten untersucht ist der Spezialextrakt EGb 761. Typische Spezifikation: etwa 24 % Flavon‑Glykoside und 6 % Terpenlaktone; Ginkgolsäuren < 5 ppm. Achtung: Die Qualität von Nahrungsergänzungsmitteln variiert stark – Standardisierung und Reinheit sind nicht immer garantiert. In Studien und zugelassenen Arzneimitteln wird auf enge Gehaltsbereiche (ca. 22–27 % Flavon‑Glykoside; 5–7 % Terpenlaktone) und sehr geringe Ginkgolsäuren geachtet. Pharmakokinetik/Standardisierung, CYP‑Cocktail‑Studie (Standardisierung bestätigt).
EGb 761 ist ein streng standardisierter Ginkgo‑Extrakt. Nahrungsergänzungen können stark schwanken – bei Arzneimitteln sind Gehalte und Verunreinigungen eng reguliert.
Zulassung in EU/DE: Die europäische HMPC/EMA‑Monografie führt Ginkgo‑Blatt als pflanzliches Arzneimittel mit „well‑established use“ zur Verbesserung altersbedingter kognitiver Beeinträchtigung und der Lebensqualität bei milder Demenz. Für Angst oder Depression besteht keine EU‑Zulassung. In Deutschland ist zu unterscheiden: zugelassene Arzneimittel (mit Zulassungsnummer und Fachinformation) vs. Nahrungsergänzungsmittel (ohne arzneiliche Zulassung). EMA/HMPC‑Monografie.
Qualität am deutschen Markt: Eine aktuelle Analyse von 63 Ginkgo‑Produkten in Deutschland zeigt große Unterschiede zwischen zugelassenen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln – u. a. bei Gehaltswerten, Ginkgolsäuren und Kosten. Ergebnis: Für eine zuverlässige Qualität sind Arzneimittel klar zu bevorzugen. Vergleichsstudie DE‑Markt.
Ginkgo‑Arzneimittel folgen strengen Qualitätsvorgaben, Nahrungsergänzungen nicht. Prüfe auf eine Zulassungsnummer und nutze offizielle Arzneimittel‑Datenbanken.
Mechanistische Momentaufnahme (Kontext, keine Wirksamkeitsbehauptung): Präklinische Daten zeigen antioxidative Effekte, eine Modulation neurotropher Faktoren (z. B. BDNF), eine Antagonisierung des Plättchen‑Aktivierungsfaktors (PAF) durch Ginkgolide sowie mögliche Effekte auf Monoamin‑Signalwege und die Mikrozirkulation. Diese Hypothesen erklären potenziell klinische Beobachtungen, sind aber kein Beweis für antidepressive/anxiolytische Wirksamkeit. Review zu Neuroprotektion/BDNF; PAF‑Antagonismus.
2) Die Evidenz zu Angst
Die meistzitierte RCT: 107 Erwachsene mit generalisierter Angststörung oder Anpassungsstörung mit ängstlicher Stimmung erhielten 4 Wochen EGb 761 (240 mg/Tag oder 480 mg/Tag) oder Placebo. Ergebnis: Dosisabhängige Reduktion der Hamilton‑Anxiety‑Skala (HAMA), signifikant gegenüber Placebo; Studie war jedoch kurz und klein, mit Herstellerbeteiligung. J Psychiatr Res 2007.
Vergleich im Kräuterspektrum: Eine Netzwerk‑Metaanalyse sieht Ginkgo als „vielversprechend“, aber auf Basis weniger Studien; für Lavendelöl (Silexan) und Kava liegen stärkere Daten vor. Pharmacological Research 2022.
Bottom line Angst: Positives Signal über 4 Wochen bei 240–480 mg/Tag, aber begrenzte Evidenzbasis; keine EMA‑/HMPC‑Indikation und keine Empfehlung als Erstlinie in deutschen Leitlinien – eher als mögliche Ergänzung und nur nach Abklärung geeignet. Regulatorischer Kontext.
Bei Angst gibt es ein kurzes, positives RCT‑Signal. Für eine klare Empfehlung als Erstlinientherapie reicht die Evidenz nicht – eher begleitend und befristet testen.
3) Die Evidenz zu Stimmung und Depression
Meta‑Analyse 2024: 21 Studien (n≈2074) fanden Verbesserungen auf der HAMD‑Skala nach 4–8 Wochen sowie Anstiege von BDNF/5‑HT unter Ginkgo versus Kontrolle. Allerdings: hohe Heterogenität, häufig add‑on‑Designs (z. B. post‑Stroke), variable Qualität – also eher vorsichtig‑optimistisch, kein Praxis‑Gamechanger. Frontiers in Pharmacology 2024.
Negative/mischte Daten: Ein Präventionsversuch bei saisonaler Depression (SAD) zeigte keinen Nutzen. Acta Psychiatr Scand 1999.
Stimmung bei Demenz (BPSD): In mehreren RCTs bei älteren Menschen mit Demenz verbesserte EGb 761 (typisch 240 mg/Tag, 22–24 Wochen) Symptome wie Angst, Dysphorie/Depression, Reizbarkeit und Schlaf. Das ist die stärkste klinische Signatur für stimmungsnahe Effekte – allerdings in dieser spezifischen Subgruppe. Primärstudie (22 Wochen); Bestätigung (24 Wochen).
Leitlinienkontext Deutschland: In der Demenzversorgung wird Ginkgo in manchen Kontexten als Option geführt; nicht aber als antidepressive oder primär anxiolytische Therapie. Springer Medizin (Aufnahme in S3‑Leitlinie Demenzen).
Bottom line Stimmung: Am überzeugendsten bei BPSD in Demenz; für die allgemeine Depression bleibt die Evidenz heterogen und meist additiv – nicht als primäres Antidepressivum ansehen.
Bei Demenz‑assoziierten Stimmungssymptomen gibt es die stärksten Daten. Für „klassische“ Depression sind die Ergebnisse gemischt – nutzen Sie bewährte Erstlinien‑Therapien.
4) Wer Ginkgo erwägen kann – und wer nicht
- Mögliche Kandidaten: Erwachsene mit milden Angstsymptomen, die eine kurze, eng überwachte Probe (4–6 Wochen) zusätzlich zu Lebensstilmaßnahmen versuchen möchten; ältere Menschen mit Demenz‑assoziierten neuropsychiatrischen Symptomen – in ärztlicher Betreuung. BPSD‑Evidenz.
- Vorher ärztlich abklären/vermeiden: Einnahme von Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern/NSAIDs/SSRIs/SNRIs (mögliches Blutungsrisiko), geplante OP, Epilepsie, Schwangerschaft/Stillzeit, bekannte Allergie. VA‑Datenbankanalyse zu Warfarin + Ginkgo.
5) Anwendung in Deutschland: sicher und praxisnah
Produktwahl: Bevorzuge zugelassene Arzneimittel (erkennbar an „Zulassungsnummer“ auf der Packung; Fach‑/Gebrauchsinformation vorhanden). Prüfen lässt sich die Zulassung über das öffentliche PharmNet.Bund‑Portal. Vorsicht: Online genannte „EGb 761“‑Claims sind nicht automatisch das proprietäre Arzneimittel – Zulassungsstatus prüfen. PharmNet.Bund – Arzneimittelinformation; DE‑Qualitätsvergleich.
Dosierungen aus Studien:
- Angst: 240–480 mg/Tag (aufgeteilt), 4 Wochen in der Schlüssel‑RCT; bei Empfindlichkeit mit 120–240 mg/Tag starten und auftitrieren. RCT‑Details.
- Demenz‑assoziierte Stimmungssymptome: 240 mg/Tag über 22–24 Wochen. 22 Wochen; 24 Wochen.
Wann ist die beste Tageszeit für die Einnahme? Eine praxisnahe Übersicht finden Sie hier: Ginkgo einnehmen – beste Zeit.
Erwartungsmanagement: 4–6 Wochen für einen fairen Effekt‑Check einplanen; aussetzen, wenn kein Nutzen spürbar. Begleitend: Schlafrhythmus, Bewegung, Tageslicht, Stressreduktion (z. B. MBSR), soziale Aktivität. Bei klinisch relevanter Angst/Depression: psychotherapeutische Verfahren (CBT) und leitlinienbasierte Medikamente bleiben Erstlinie. NVL Depression.
In Deutschland möglichst ein zugelassenes Ginkgo‑Arzneimittel wählen, 4–6 Wochen testen und Effekte dokumentieren. Leitlinien‑Therapien haben Vorrang.
6) Sicherheit, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen
- Häufig: Kopfschmerzen, Magen‑Darm‑Beschwerden; selten allergische Reaktionen. EMA/HMPC.
- Blutungen: Fallberichte und Beobachtungsdaten weisen auf ein erhöhtes Risiko hin – z. B. eine große VA‑Analyse mit Hazard Ratio ca. 1,38 für Blutungen unter Warfarin + Ginkgo. Kleinere Interaktionsstudien zeigten teils keine starken Effekte. Fazit: wegen der potenziellen Schwere Vorsicht und ärztliche Überwachung bei Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmern/SSRIs/SNRIs; Ginkgo vor geplanten OPs pausieren. VA‑Analyse; Überblicksarbeiten.
- Epilepsie/Anfälle: Ginkgo‑Samen (nicht standardisierte Extrakte) enthalten Ginkgotoxin (4′‑O‑Methylpyridoxin), das Krampfanfälle auslösen kann; bei Epilepsie Vorsicht. Fallberichte.
- Pharmakokinetik: EGb 761 zeigte in einer humanen „CYP‑Cocktail“‑Studie keine relevanten Effekte auf Haupt‑CYP‑Isoenzyme; präklinische CYP‑Signale sind nicht konsistent klinisch relevant. Dennoch Vorsicht mit Arzneien enger therapeutischer Breite. Eur J Clin Pharmacol 2012.
Ginkgo gilt meist als gut verträglich, kann aber Blutungsrisiken erhöhen – besonders in Kombination mit Blutverdünnern oder SSRIs. Samen sind tabu bei Krampfneigung.
7) Was sagen Regulatoren und Leitlinien (DE/EU)?
- EMA/HMPC: „Well‑established use“ bei kognitiver Beeinträchtigung/Milddemenz; keine Indikation für Angst/Depression. Offizielle Monografie.
- Deutschland: In der Demenzversorgung taucht Ginkgo als Option auf; für Angst/Depression bleiben Psychotherapien und konventionelle Behandlungen Erstlinie (NVL Depression). Springer Medizin; NVL Depression.
8) Forschungslücken (2025–2027): Worauf achten?
- Größere, längere RCTs in primären Angst‑ und Nicht‑Demenz‑Depressionspopulationen mit standardisierten Produkten, transparenter Finanzierung und Head‑to‑Head‑Vergleichen.
- Modernes Sicherheits‑Monitoring in Real‑World‑Kohorten (DE), insbesondere Wechselwirkungen mit DOAKs, Thrombozytenhemmern und SSRIs. Aktuelle Übersichtsarbeit zu Warfarin‑Interaktionen.
9) Mythos vs. Fakt
- „Ginkgo ist ein bewiesenes Antidepressivum.“ Nicht belegt: Daten sind heterogen und oft additiv zu Standardtherapien. Meta‑Analyse 2024.
- „Alle Ginkgo‑Produkte sind gleich.“ Falsch: Große Unterschiede bei Gehalten und Ginkgolsäuren; Arzneimittel bevorzugen. Vergleich am deutschen Markt.
- „Ginkgo führt immer zu gefährlichen Blutungen.“ Übertrieben – das Risiko ist nicht „immer“, aber plausibel, besonders mit Antikoagulanzien/SSRIs; ärztlich abklären. VA‑Analyse.
10) Praktischer Entscheidungsleitfaden
Drei Fragen vor dem Start:
- Liegt eine anhaltende Angst/Depression vor, die eine ärztliche Abklärung erfordert?
- Nehme ich Medikamente mit Blutungsrisiko oder solche, die die Krampfschwelle senken?
- Kann ich 4–6 Wochen eine überwachte Probe mit einem zugelassenen Produkt durchhalten und Symptome tracken?
Monitoring‑Plan (Selbstmanagement): Wöchentlich HADS/PHQ‑9/GAD‑7 notieren; auf Hämatome/Blutungen, Kopfschmerzen, GI‑Beschwerden achten; nach 4–6 Wochen entscheiden (weiter/stoppen).
Wann abbrechen und Hilfe holen: Keine Besserung bis Woche 6; Verschlechterung von Stimmung/Angst; jegliche Blutung, starke Kopfschmerzen, Sehstörungen oder neurologische Symptome.
11) Fazit für Longevity‑Interessierte
Ginkgo kann als additive Option kurzfristig leichte Angstsymptome mildern und bei Demenz‑assoziierten Stimmungssymptomen unterstützen. Als alleinige Behandlung für Angst oder Depression ist es nicht geeignet. Priorisieren Sie Lebensstil, Psychotherapie und leitliniengerechte Medizin – und wenn Sie Ginkgo nutzen, wählen Sie standardisierte, zugelassene Produkte und beziehen Sie Ihre Ärztin/Ihren Apotheker ein. Kern‑RCT.
Für Interessierte an ergänzenden Strategien: Eine kuratierte Auswahl passender Produkte finden Sie in unserer Longevity‑Kollektion.
Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung und dient ausschließlich der Information. Besprechen Sie die Einnahme von Ginkgo – insbesondere bei bestehender Medikation oder Blutungsrisiko – unbedingt mit Arzt/Apotheker.