Ginkgo bei Demenz: Was klinische Studien wirklich zeigen
Leila WehrhahnAktualisiert:Ginkgo ist in Deutschland apothekenpflichtig, hat Tradition – und spaltet die Forschung: Große Vorbeugestudien blieben negativ, während mehrere Behandlungsstudien symptomatische Vorteile zeigen. Dieser Leitfaden ordnet die Evidenz für Prävention vs. Therapie ein, erklärt Dosierung und Sicherheit und zeigt, wer realistisch profitieren kann.
TL;DR – die wichtigsten Punkte
- Prävention: Große, langfristige RCTs (GEM; GuidAge) mit 240 mg/Tag fanden keine Senkung der Demenzinzidenz. Ginkgo nicht zur Vorbeugung einsetzen. JAMA GEM‑Studie; Meta‑Analyse zu Präventionsstudien.
- Therapie: Mehrere 22–26‑Wochen‑RCTs und Meta‑Analysen mit dem standardisierten Extrakt EGb 761 (meist 240 mg/Tag) zeigen moderate symptomatische Verbesserungen (Kognition, ADL, globaler Eindruck, BPSD) vs. Placebo bei leichter bis mittelgradiger Demenz. Systematische Übersichtsarbeit.
- Leitlinien/Behörden (DE/EU): Die deutsche S3‑Leitlinie „Demenzen“ ist seit 2023 als Living Guideline verfügbar und wurde 2025 aktualisiert; deutsche medizinische Sekundärquellen berichten EGb 761 (240 mg/Tag) als Therapieoption bei leichter bis mittelgradiger Demenz. Die EMA stuft Ginkgo‑Blätter‑Extrakte für „age‑related cognitive impairment“ und Lebensqualität bei milder Demenz als „well‑established use“ ein. MAGICApp Eintrag; DGPPN Mitteilung 2025; EMA‑Monographie.
- Sicherheit: Im Allgemeinen gut verträglich; Vorsicht bei Antikoagulanzien/Thrombozytenaggregationshemmern, vor OP absetzen; in Schwangerschaft meiden. EMA und deutsche Produktinformationen empfehlen ärztliche Abklärung bei Blutungsrisiko. EMA‑Monographie; Rote‑Liste‑Eintrag.
- Qualität entscheidet: Nur pharmazeutische, standardisierte Extrakte (z. B. EGb 761) entsprechen der Studienlage; Nahrungsergänzungen schwanken stark in Gehalt/Reinheit. Analyse des deutschen Marktes.
1) Warum Ginkgo in Deutschland im Gespräch bleibt
In Deutschland leben 1,6–1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Viele Betroffene und Angehörige wünschen sich eine natürliche Ergänzung zur Standardtherapie – am liebsten etwas, das Gedächtnis, Alltagsfunktion und Verhaltenssymptome spürbar lindert. Ginkgo‑Arzneimittel sind apothekenpflichtig und werden hierzulande seit Jahrzehnten genutzt. Wichtig ist die richtige Erwartung: Ginkgo verhindert keine Demenz, kann aber bei bereits bestehender leichter bis mittelgradiger Demenz symptomatisch helfen – abhängig vom Präparat, der Dosis und dem individuellen Ansprechen.
2) Was ist EGb 761 – und warum Standardisierung alles ist
EGb 761 ist ein pharmazeutisch standardisierter Ginkgo‑Blätter‑Trockenextrakt (typisch: 22–27 % Flavonol‑Glykoside, 5–7 % Terpenlaktone, <5 ppm Ginkgolsäuren; Auszugsmittel häufig Aceton 60 %). Genau diese Standardisierung wurde in den wirksamkeitsprüfenden Studien eingesetzt. Viele als „Ginkgo“ vermarktete Nahrungsergänzungen erreichen diese Standards nicht, schwanken im Wirkstoffgehalt und können erhöhte Mengen an Ginkgolsäuren enthalten.
- Pharmaqualität vs. Supplement: Analysen von 63 in Deutschland erhältlichen Produkten zeigen: Arzneimittel mit Zulassung erfüllen die Vorgaben konsistent, Nahrungsergänzungen häufig nicht. Vergleichsstudie (Naunyn‑Schmiedeberg’s Arch Pharmacol).
- Praxis‑Tipp: Achten Sie auf die Nennung eines standardisierten Extrakts wie EGb 761 und bevorzugen Sie zugelassene Arzneimittel aus der Apotheke (z. B. Zusammensetzung ersichtlich im Rote‑Liste‑Eintrag).
Wirksamkeitsdaten beziehen sich auf standardisierte Arznei-Extrakte (EGb 761). Nahrungsergänzungen sind oft nicht gleichwertig.
3) Kann Ginkgo eine Demenz verhindern? Das Urteil der Präventionsstudien
Die zwei größten, hochwertigen Präventionsstudien sind negativ: Die US‑amerikanische GEM‑Studie (3.069 Teilnehmende, 120 mg 2‑mal täglich; Median 6,1 Jahre) zeigte keine Reduktion der Inzidenz von Demenz/Alzheimer (Hazard Ratio für Demenz 1,12; 95 %‑KI 0,94–1,33). Ähnlich fiel die französische GuidAge‑Studie aus. Eine Meta‑Analyse von zwei Präventions‑RCTs mit zusammen ~5.900 Teilnehmenden bestätigte: kein präventiver Effekt (OR 1,05; 95 %‑KI 0,89–1,23). Adhärenz‑ und Subgruppen‑Analysen änderten die Primärbefunde nicht belastbar. GEM – Demenzinzidenz; GuidAge – Studieneckdaten; Meta‑Analyse.
Zur Vorbeugung von Demenz bringt Ginkgo keinen belegten Nutzen. Konzentrieren Sie sich auf bewährte Lebensstilfaktoren (Bewegung, Blutdruck, Schlaf, Sozialkontakte).
- Kein Einsatz von Ginkgo zur primären Demenzprävention.
- Stattdessen: Blutdruck, Blutzucker, Bewegung, Schlaf, Hörversorgung, soziale Aktivität, mediterrane Kost priorisieren.
4) Hilft Ginkgo Menschen mit bestehender Demenz?
Ja – symptomatisch, in moderater Stärke, wenn ein standardisierter Extrakt (EGb 761) in ausreichender Dosis (meist 240 mg/Tag) über 22–26 Wochen eingesetzt wird. Meta‑Analysen berichten Vorteile vs. Placebo für Kognition (z. B. SKT/ADAS‑Cog), Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL), globalen klinischen Eindruck und besonders neuropsychiatrische Symptome (BPSD wie Agitation, Angst, Apathie, Schlafstörungen, Reizbarkeit). Beispielhafte gepoolte Effekte: SMD Kognition ≈ −0,52; ADL ≈ −0,44; Global ≈ −0,52 – statistisch signifikant, klinisch für einige Betroffene relevant. Meta‑Analyse EGb 761 in Demenz; BPSD‑Meta‑Analyse.
Die Evidenz umfasst Alzheimer‑, vaskuläre und gemischte Demenz; Subgruppen zeigen konsistent gleiche Wirkungsrichtung. RCTs mit 240 mg/Tag belegen Verbesserungen in Kognition (SKT/ADAS‑Cog) und NPI‑Scores sowie alltagsrelevante Ziele. GOTADAY‑RCT (24 Wochen, 240 mg qd).
Bei leichter bis mittelgradiger Demenz kann EGb 761 (240 mg/Tag) nach ~6 Monaten messbare, oft spürbare Symptomverbesserungen erzielen – keine Heilung, aber Entlastung im Alltag.
- Leichte bis mittelgradige Demenz (Alzheimer, vaskulär, gemischt).
- Ausgeprägte BPSD (z. B. Agitation, Angst, Schlafstörungen) – hier sind die Effekte häufig am deutlichsten.
- Voraussetzung: Standardisierter Extrakt (EGb 761), 240 mg/Tag, 22–26 Wochen Therapietest und ärztliche Begleitung.
5) Was sagen deutsche Leitlinien und EU‑Behörden?
- S3‑Leitlinie „Demenzen“ (Living Guideline): Seit 2023 als Living Guideline verfügbar, am 28.02.2025 aktualisiert (Version 5.0). Deutsche Fachquellen fassen zusammen: EGb 761 (240 mg/Tag) kann als Therapieoption bei leichter bis mittelgradiger Demenz erwogen werden; genaue Formulierungen bitte in der MAGICApp‑Darstellung nachlesen. DGPPN‑Mitteilung 2025.
- EMA/HMPC‑Monographie: Well‑established use zur Verbesserung altersbedingter kognitiver Beeinträchtigung und der Lebensqualität bei milder Demenz; ärztliche Kontrolle, falls nach 3 Monaten keine Besserung. EMA Ginkgo folium.
- Abweichende Bewertungen: Eine ältere Cochrane‑Zusammenfassung (2009) beurteilte die Evidenz als inkonsistent. Neuere, EGb‑761‑fokussierte Analysen sowie deutsche Praxisbewertungen differenzieren stärker.
Leitlinien und EMA sehen Ginkgo‑Arzneiextrakte als Option für milde Demenzsymptome; bitte immer die aktuelle Leitlinienfassung prüfen.
6) Dosierung, Dauer, Darreichung – was Studien nutzten
- Regime in RCTs: EGb 761 240 mg/Tag (einmal täglich oder 120 mg 2‑mal täglich) für 22–26 Wochen vor Beurteilung des Ansprechens. Beispiel‑RCT; Meta‑Analyse.
- Erwartungsmanagement: Wenn nach ~3 Monaten kein Nutzen spürbar ist, Therapie reevaluieren; EMA empfiehlt ärztliche Rücksprache bei Ausbleiben der Besserung. EMA‑Hinweis.
- In Deutschland: Ginkgo‑Arzneimittel sind apothekenpflichtig; bevorzugen Sie zugelassene Produkte gegenüber Nahrungsergänzungen. Rote‑Liste‑Beispiel (Zusammensetzung/Indikation).
7) Sicherheit, Interaktionen – und wer verzichten sollte
Ginkgo‑Arzneiextrakte gelten insgesamt als gut verträglich. Häufig berichtete Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen oder milde gastrointestinale Beschwerden. Labels warnen vor möglicher Blutungsneigung: Vorsicht bei gleichzeitiger Einnahme von Antikoagulanzien/Thrombozytenaggregationshemmern; vor Operationen absetzen; in der Schwangerschaft meiden. Die EMA nennt Blutungen (z. B. Auge, Nase, Gehirn, GI‑Trakt) als potenzielles Risiko; deutsche Produktinfos listen Interaktionen (z. B. mit Phenprocoumon/Warfarin, Clopidogrel, ASS; mögliche CYP‑Interaktionen) und Schwangerschaft als Gegenanzeige. Interessanterweise zeigte die große GEM‑Studie keinen Anstieg schwerer Blutungen, dennoch gelten Label‑Vorsichtsmaßnahmen weiter. EMA‑Monographie; deutsche Produktinformation; GEM‑Sicherheitsmeldung (NIH).
Meist gut verträglich, aber Blutungsrisiko prüfen – besonders bei Blutverdünnern und vor Eingriffen. Schwangerschaft: vermeiden.
8) Wie passt Ginkgo zu Standardmedikamenten?
Direkte Head‑to‑Head‑Daten sind begrenzt: Eine kleine RCT fand ähnliche Ergebnisse von EGb 761 (160 mg/Tag) vs. Donepezil (5 mg/Tag) über 24 Wochen; aufgrund Größe/Methodik sind daraus keine Leitlinienwechsel abzuleiten. In einer Netzwerk‑Meta‑Analyse schnitten Cholinesterasehemmer (v. a. Galantamin) gegenüber Placebo konsistent ab; EGb 761 zeigte in dieser indirekten Gegenüberstellung keine Vorteile über Placebo. Cholinesterasehemmer/Memantin bleiben die Standardtherapien; Ginkgo kann als ergänzende Option symptomorientiert erwogen werden. Head‑to‑Head vs. Donepezil; Netzwerk‑Meta‑Analyse.
9) Checkliste für Patientinnen/Patienten und Angehörige in Deutschland
- Vor dem Start: Diagnose und Stadium klären; Therapieziele festlegen (z. B. BPSD, ADL, Entlastung der Pflegenden).
- Produktwahl: Zugelassenes Arzneimittel mit standardisiertem Extrakt (z. B. EGb 761) und 240 mg/Tag. Beispiel Eintrag/Label. Eine kuratierte Übersicht thematisch passender Longevity‑Produkte finden Sie hier.
- Therapie‑Test: 12–24 Wochen mit Monitoring (z. B. SKT/MMST, NPI, ADL, Feedback der Betreuungsperson).
- Sicherheit: Medikamentenliste mit Arzt/Apotheker durchgehen (Antikoagulanzien/Thrombozytenhemmer, NSAR, geplante Eingriffe); Schwangerschaft vermeiden; ungewöhnliche Blutergüsse/Blutungen direkt melden. EMA‑Hinweise.
- Re‑Assessment: Weitermachen bei spürbarem Nutzen und guter Verträglichkeit; absetzen, wenn nach ~3 Monaten kein relevanter Effekt. EMA‑Hinweise.
10) Woran Sie neue Ginkgo‑Schlagzeilen prüfen sollten
- Welcher Extrakt (EGb 761?) und welche Dosis (240 mg/Tag)?
- Welche Population (mild vs. moderat; Alzheimer vs. vaskulär vs. gemischt)?
- Welche Dauer (≥22 Wochen)? Welche Endpunkte (Kognition, ADL, NPI, ADCS‑CGIC)?
- Design/Bias/Sponsoring; Prävention vs. Behandlung strikt trennen.
11) Offene Fragen und Forschungslücken
Bis heute gibt es keinen Präventionsnachweis. Benötigt werden längere, unabhängige Studien zu Krankheitsprogression, robuste Kopf‑an‑Kopf‑Vergleiche mit modernen Standards sowie hochwertige Kombinationsstudien. Real‑World‑Daten aus Deutschland deuten in MCI‑Kohorten auf eine assoziierte niedrigere Demenzinzidenz bei mehrfachen Ginkgo‑Verordnungen hin – Confounding kann das nicht ausschließen. Retrospektive Kohortenanalyse (Deutschland).
Ginkgo ist keine Vorbeugung. Als Therapie sind die Effekte moderat, teils alltagsrelevant. Bessere Kopf‑an‑Kopf‑ und Kombinationsstudien sind wünschenswert.
Wichtiger Hinweis
Dieser Artikel ersetzt keine individuelle medizinische Beratung. Entscheidungen zu Diagnose und Therapie sollten gemeinsam mit Ärztin/Arzt und Apotheke getroffen werden.