Resveratrol und Rotwein: Mythos oder Wundermittel?
Leila WehrhahnAktualisiert:TL;DR: Alkohol ist ein Karzinogen – es gibt keine “sichere” Menge. Trinke nicht aus Gesundheitsgründen. Wenn du Wein genießt, dann selten und sehr wenig; es gibt auch entalkoholisierte Alternativen. Siehe die Position von WHO Europe.
Resveratrol zeigt bei bestimmten Gruppen (z. B. bei Insulinresistenz/Typ‑2‑Diabetes) in Studien moderate Vorteile bei Stoffwechselmarkern, aber keine belegte Lebensverlängerung beim Menschen. Die in Studien verwendeten Dosen sind um Größenordnungen höher als das, was in Wein vorkommt. Siehe Meta‑Analyse in American Journal of Clinical Nutrition.
Roter Wein enthält typischerweise sehr wenig Resveratrol; um eine übliche Supplement‑Dosis zu erreichen, wären viele Gläser nötig – mit klaren Alkoholrisiken. Datenübersichten z. B. in Resveratrol: How Much Wine Do You Have to Drink to Stay Healthy?.
Für Polyphenole ohne Alkohol: setze auf ein mediterran geprägtes Essmuster, Trauben/Beeren/Erdnüsse/Kakao, Tee/Kaffee – und erwäge ein wohldosiertes Supplement, falls sinnvoll. Blutdruckvorteile wurden mit dealkoholisierter Rotwein‑Polyphenolfraktion gezeigt (Circulation Research).
Warum wir überhaupt darüber sprechen: French Paradox und der “Gesundheits‑Halo” von Rotwein
Der Begriff “French Paradox” geht auf eine Veröffentlichung im Jahr 1992 im Lancet zurück: trotz hoher Aufnahme gesättigter Fette lag die Rate an Koronarerkrankungen in Frankreich niedrig; als ein möglicher Grund wurde Wein diskutiert (Renaud & de Lorgeril, 1992). Populär wurde das Narrativ 1991 durch eine TV‑Reportage, die Wein einen Schutz zuschrieb. Heute wissen wir: Alkohol ist ein Group‑1‑Karzinogen (IARC). Selbst geringe Mengen erhöhen das Krebsrisiko; potenzielle kardiometabolische Signale rechtfertigen keinen Konsum zu “Gesundheitszwecken” (WHO Europe).
Das French Paradox stammt aus Beobachtungsdaten – es beweist keinen Schutzeffekt von Wein. Aus heutiger Sicht überwiegt das Krebsrisiko von Alkohol potenzielle Vorteile deutlich.
Was Resveratrol eigentlich ist – in einfacher Sprache
Resveratrol ist ein Pflanzenpolyphenol aus der Schale von Trauben, Beeren und Erdnüssen. Es liegt als trans‑ und cis‑Isomer vor, wobei die Forschung sich überwiegend auf trans‑Resveratrol bezieht. In Zellen steuert Resveratrol Signalwege mit antioxidativ‑entzündungsmodulierenden Effekten; diskutiert werden u. a. Sirtuin‑Pfad (SIRT1) und AMPK. Zur Relevanz beim Menschen wird weiterhin geforscht, u. a. weil Pharmakokinetik/Metabolismus die Spiegel des aktiven Mutterstoffs stark begrenzen (NIH Research Matters: SIRT1). Weitere Hintergründe zu möglichen Effekten im Gehirn und zur Neuroprotektion findest du in unserem Beitrag Resveratrol, Gehirn & Neuroprotektion.
Resveratrol ist ein Pflanzenstoff, der Zellschutz‑Signalwege beeinflussen kann. Ob und wie stark das beim Menschen wirkt, hängt von Aufnahme und Abbau im Körper ab.
Wie viel Resveratrol steckt in Rotwein – und wie viel in Supplements?
Der Resveratrolgehalt von Rotwein schwankt stark je nach Rebsorte, Klima und Ausbau. Typische Bereiche bewegen sich ungefähr im Bereich 0,3–2 mg pro Liter, Ausreißer können höher liegen; pro 150‑ml‑Glas sind das meist nur 0,05–0,3 mg (Datenübersicht). Demgegenüber setzen Studien mit Nahrungsergänzung häufig 100–500 mg/Tag ein (Meta‑Analyse RCTs). Der “Dosis‑Gap” ist also enorm – Wein ist kein sinnvoller Resveratrol‑Lieferant.
Ein Glas Rotwein liefert nur Spuren an Resveratrol. Für Studienmengen bräuchte es unrealistisch viele Gläser – mit klaren Alkoholrisiken.
Bioverfügbarkeit: die Realität
Oral wird Resveratrol zwar gut resorbiert, aber sehr schnell in Leber und Darm zu Glucuroniden und Sulfaten verstoffwechselt. Dadurch ist die Menge des unveränderten Wirkstoffs im Blut extrem niedrig; Metabolite dominieren. In humanen Übersichten wird die orale Bioverfügbarkeit des Mutterstoffs als “sehr gering” beschrieben – ein Grund, weshalb in Studien relativ hohe Dosen nötig sind, um Zielgewebe zu erreichen (Walle 2011, Ann NY Acad Sci).
Formulierungsansätze (z. B. Liposomen, Cyclodextrine, feste Dispersionen) können die Resveratrol‑Spiegel erhöhen; ob dies zu klinisch relevanten Mehrwerten führt, ist bislang nicht abschließend belegt (Molecules‑Review 2021).
Resveratrol wird schnell umgebaut – kaum “freier” Wirkstoff im Blut. Neue Formulierungen verbessern die Aufnahme, doch klinische Belege für klare Zusatznutzen sind begrenzt.
Was sagen Humanstudien (Langlebigkeits‑relevante Endpunkte)?
- Lebenserwartung/Healthspan: Für Menschen gibt es keine Belege, dass Resveratrol die Lebensspanne verlängert. In Mäusen zeigte Resveratrol auf Standarddiät Gesundheitsmarker‑Verbesserungen, aber keine Lebensverlängerung (NIH‑Mitteilung).
- Glykämie/Insulinresistenz: Meta‑Analyse von RCTs: Verbesserungen bei Nüchternglukose, HbA1c und HOMA‑IR vor allem bei Typ‑2‑Diabetes/Insulinresistenz; in Nicht‑Diabetikern kein Effekt (Am J Clin Nutr 2014).
- Blutfette/Entzündung/Blutdruck: RCT‑Zusammenfassungen berichten kleine Senkungen von Gesamtcholesterin/LDL und CRP; Blutdruckeffekte sind heterogen und treten eher in Subgruppen auf. Ein Crossover‑Trial zeigte: dealkoholisierter Rotwein senkte Blutdruck signifikant – ein Hinweis, dass Polyphenole (nicht Ethanol) den Effekt treiben (Kritische Review/Meta‑Analyse, Circulation Research).
- Gewichtsreduktion: Systematische Reviews zeigen insgesamt keinen klinisch relevanten Effekt auf Gewicht/BMI; einzelne Subanalysen deuten nur in spezifischen Settings kleine Veränderungen an (Clin Nutr ESPEN 2021).
Kein Nachweis für Lebensverlängerung beim Menschen. Resveratrol kann einzelne Risiko‑Marker – v. a. bei Stoffwechselproblemen – moderat verbessern. Der Nutzen ist kontextabhängig.
Deutschland/EU: Was ist erlaubt – und was nicht?
Die DGE (Positionspapier 12.08.2024) betont: Es gibt keine potenziell gesundheitsfördernde und sichere Alkoholmenge; empfohlen wird, ganz auf alkoholische Getränke zu verzichten (DGE‑Position Alkohol; ergänzend DGE‑FAQ Alkohol). Die WHO Europe stellt klar: Risiken beginnen mit dem ersten Tropfen (WHO‑Statement).
Health‑Claims & Marketing: Für Resveratrol gibt es keine zugelassenen gesundheitsbezogenen Aussagen im EU‑Register. Die EFSA bewertete synthetisches trans‑Resveratrol als neuartiges Lebensmittel bis 150 mg/Tag für Erwachsene als sicher – das ist eine Sicherheits‑, keine Wirksamkeitsaussage (EFSA‑Gutachten; EU‑Register Überblick: EU‑Register für Health‑Claims).
DGE und WHO raten klar von Alkohol für die Gesundheit ab. Für Resveratrol sind in der EU keine Health‑Claims zugelassen; 150 mg/Tag gelten als sicher – nicht als “wirksam”.
Wenn du Resveratrol nutzen willst – der sichere, smarte Weg
Option A: Ernährung zuerst – alkoholfrei
- Mittelmeerkost‑Muster priorisieren: viel Gemüse/Obst, Hülsenfrüchte, Vollkorn, Nüsse, Olivenöl; dazu Trauben, Beeren, Erdnüsse, Kakao als Polyphenolquellen. Blutdruckvorteile wurden mit polyphenolreichen, dealkoholisierten Rotweinfraktionen gezeigt (Crossover‑Studie).
- Wenn Rotwein wegen des Aromas: prüfe dealkoholisierten Rotwein – auf den Polyphenolgehalt achten und auf Zucker pro 100 ml.
Option B: Supplement‑Checkliste (praktisch & regelkonform)
- Für wen? Menschen mit Insulinresistenz/MetS können – in ärztlicher Begleitung – erwägen, Resveratrol testweise einzusetzen. Kein “Longevity‑Wundermittel”. RCTs verwenden oft 100–500 mg/Tag über 8–12 Wochen (Meta‑Analyse RCTs).
- Qualität: Seriöse Anbieter mit Prüfberichten (z. B. ISO‑akkreditierte Labore; transparente Certificates of Analysis). In der EU gelten Supplements als Lebensmittel – auf klare Deklaration und Chargenprüfung achten.
- Einnahme/Toleranz: Mit oder nach einer Mahlzeit starten; auf Magen‑Darm‑Verträglichkeit achten. Kein “Megadosing” und nicht mit vielen anderen hochdosierten Polyphenolen “stapeln”.
- Übersicht: Eine kuratierte Auswahl von Produkten rund um Langlebigkeit findest du in unserer Longevity‑Kollektion.
Sicherheit, Interaktionen – wer sollte vermeiden?
- Dosissicherheit: EFSA: bis 150 mg/Tag für Erwachsene sicher; ab ≥1 g/Tag traten häufiger GI‑Nebenwirkungen auf (EFSA‑Bewertung).
- Wechselwirkungen: Potenzielles Interaktionsrisiko (v. a. über CYP2C9, evtl. CYP3A4) – Vorsicht bei gerinnungshemmenden/eng‑therapeutischen Medikamenten (z. B. Warfarin) und bestimmten NSAR. Immer mit Arzt/Apotheke abklären.
- Kontraindiziert/mit Vorsicht: Schwangerschaft/Stillzeit, vor Operationen, bei Blutungsstörungen. Bei hormonabhängigen Erkrankungen die mögliche östrogene Aktivität mit dem Arzt besprechen.
Wenn Supplement, dann kurzzeitig, niedrig dosiert starten, Wechselwirkungen prüfen und Wirkung nach 8–12 Wochen mit dem Arzt anhand von Laborwerten neu bewerten.
Mythos vs. Realität – schnelle Fakten
- “Ein Glas Rotwein am Tag hält den Doktor fern.” – Falsch. Alkohol erhöht das Krebsrisiko; nicht aus Gesundheitsgründen trinken (WHO Europe).
- “Resveratrol verlängert die menschliche Lebensspanne.” – Nicht belegt. Tierdaten sind gemischt; beim Menschen fehlen Lebensverlängerungsdaten (NIH‑Mitteilung).
- “Wein ist die beste Resveratrol‑Quelle.” – Nein. Die Mengen im Wein sind niedrig und variabel; Lebensmittel/Supplements liefern mehr ohne Ethanol (Lebensmittelgehalte).
Action Plan: Was du diese Woche tun kannst
- Wenn du aktuell “fürs Herz” trinkst: Beende diese Begründung. Wenn du Wein magst, trinke selten und wenig – oder teste dealkoholisierte Alternativen. Setze auf polyphenolreiche Lebensmittel (Hinweis: Polyphenole wirken ohne Ethanol).
- Bei Supplement‑Überlegung: Rücksprache mit Arzt/Apotheke – besonders bei Antikoagulanzien/Antiplättchenmitteln, Antidiabetika oder CYP‑Metabolisierung. Low‑Start (z. B. 100–150 mg/Tag), nach 8–12 Wochen Labor/Verträglichkeit evaluieren, keine unkoordinierten “Anti‑Aging‑Stacks”.
- Fokussiere die großen Hebel für Langlebigkeit: regelmäßige Aktivität, guter Schlaf, Blutdruck/Glukose im Zielbereich, mediterrane Ernährung, soziale Verbundenheit.
Fazit
Urteil: Kein Wunder – aber sinnvoll im richtigen Kontext. Resveratrol kann bei bestimmten metabolischen Risikoprofilen Marker moderat verbessern. Wein ist dafür das falsche Vehikel. Für Langlebigkeit zählt vor allem Lebensstil. Wer ein Resveratrol‑Supplement nutzen möchte, sollte es überlegt, zeitlich begrenzt und in medizinischer Begleitung tun.
Medizinischer Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine ärztliche Beratung. Sprich vor Supplement‑Einnahme mit Arzt/Ärztin oder Apotheke – insbesondere bei Schwangerschaft/Stillzeit, vor Operationen sowie bei Einnahme gerinnungshemmender oder eng‑therapeutischer Medikamente.